Sieg über Narzissmus Leseprobe

Der Groschen fällt

 

Der Mensch ist in dem Moment frei, in dem er sich dafür entscheidet.

– Voltaire

 

Die Tatsache, dass Sie diese Zeilen lesen, bedeutet, dass Sie einer Wahrheit auf die Spur gekommen sind. Vielleicht hat ein bestimmtes Ereignis Ihre Illusion zerplatzen lassen. Vielleicht hat sich ein schmaler Spalt für Sie geöffnet. Ein Spalt wohin? Das wissen Sie noch nicht genau. Doch in einer Sache sind Sie sich sicher: Sie haben es gespürt. Vielleicht ist eine wichtige Bezugsperson in Ihrem Leben ein kleines Stück zu weit gegangen und Sie haben endlich festgestellt: „Das hier ist nicht normal. Warum tue ich mir den ganzen Mist eigentlich an?” Womöglich wussten Sie in dem Moment noch nicht einmal, was „normal” eigentlich bedeutet. Doch eine Sache wussten Sie ganz sicher: Die Beziehung zwischen Ihnen und Ihrer Bezugsperson ist alles andere als normal.

 

Durch den benannten schmalen Spalt, der sich für einen Augenblick für Sie geöffnet hat, ist Ihnen möglicherweise bewusst geworden, dass einer oder mehrere der folgenden Aspekte auf Ihre Beziehung zutreffen:

 

  • Sie ist unausgeglichen: So gut wie immer scheint der andere die Oberhand und das letzte Wort zu haben. Ständig müssen Sie sich abmühen, um so etwas wie Gleichgewicht und Augenhöhe herzustellen. Die Wünsche und Anliegen des anderen haben ständig Priorität vor Ihren eigenen. Sobald Sie einmal versuchen, sich bemerkbar zu machen und sich zu behaupten, findet Ihre Bezugsperson Mittel und Wege, um Ihren Vorstoß zu vereiteln und den Fokus wieder zurück auf sich zu richten.
  • Sie ist manipulativ: Auf verblüffende Weise scheint es Ihrer Bezugsperson immer wieder zu gelingen, sich gegen Sie durchzusetzen und Sie zu bestimmten Handlungsweisen zu bewegen. Oft nehmen Sie sich fest vor, sich nicht mehr darauf einzulassen und beim nächsten Mal nicht mehr darauf hereinzufallen. Trotzdem passiert es immer wieder. Sobald Sie selbst einmal versuchen, Ihre Bezugsperson zu irgendetwas zu bewegen, was Sie wollen, stoßen Sie dabei auf derart viele Hürden und Hindernisse, dass Sie irgendwann entnervt aufgeben.
  • Sie lässt Ihnen keine Freiräume: Ihre Bezugsperson nimmt ständig einen zentralen Platz in Ihren Gedanken ein. Manchmal fällt es Ihnen sogar schwer, psychologisch zu unterscheiden, wo Sie selbst enden und wo Ihre Bezugsperson beginnt. Der andere Mensch dringt mühelos in Ihren emotionalen Raum ein. Oft sehnen Sie sich nach Distanz und „Raum zum Atmen”, doch die Gedanken daran erwecken in Ihnen starke Schuldgefühle. Ein wirklich eigenständiges Individuum zu sein, das selbst über sein Schicksal bestimmt, scheint für Sie keine wirkliche Option zu sein, solange der andere Mensch Teil Ihres Lebens ist.
  • Sie ist starr und unbeweglich: Die Beziehung ermöglicht Ihnen nur wenig persönliches Wachstum und scheint sich nicht zufriedenstellend in irgendeine Richtung zu entwickeln. Vieles an ihr fühlt sich an wie leere Rituale. Sie wünschen sich, da wäre mehr.
  • Sie ist kräftezehrend: Ohne erkennbaren Grund behandeln Sie Ihre Bezugsperson wie ein rohes Ei. Schon in der Nähe des anderen Menschen zu sein sorgt bei Ihnen für ein Gefühl permanenter Anspannung, so als ob Sie ständig Erwartungen erfüllen oder sich beweisen müssten.
  • Sie ist erdrückend: Ihrer Beziehung scheint das unausgesprochene Gesetz zugrunde zu liegen, dass Ihre Bezugsperson Ihnen überlegen ist. Zeit mit dem anderen Menschen zu verbringen hinterlässt bei Ihnen das Gefühl, hoffnungslos unterlegen zu sein.
  • Sie ist leer: Die Beziehung fühlt sich schal und trist an und bietet Ihnen kaum emotionale „Nahrung”. 
  • Sie ist verwirrend: Trotz all Ihrer Mühen scheint es Ihnen nie zu gelingen, festen Boden unter Ihre Füße zu bekommen. Ständig gibt es irgendein neues Drama oder Problem, um das Sie sich kümmern oder das Sie „reparieren” müssen, um die Bezugsperson „glücklich” zu machen. Sie sehnen sich nach Frieden und nach Sicherheit, doch irgendwie scheint Ihnen beides immer wieder zu entwischen.
  • Sie wickelt Sie immer wieder ein: Eine Art unsichtbare Kraft scheint Sie an Ihre Bezugsperson zu binden und Sie immer wieder zurückzuziehen. Selbst wenn Sie es schaffen, sich einmal für eine kurze Zeit zu distanzieren, reicht eine einfache Frage aus, um Sie wieder zurückzuziehen. Es scheint eine emotionale Macht am Werk zu sein, die ein beunruhigendes Eigenleben führt und der Sie sich hilflos ausgeliefert fühlen.

 

Durch die kurze Öffnung Ihres persönlichen „Spaltes“ erkennen Sie, dass einige oder sogar alle dieser Aspekte auf Ihre Beziehung zutreffen. Von dort aus führt plötzlich eins zum anderen. Sie geben „narzisstische Persönlichkeitsstörung” als Suchbegriff bei Google ein. Sie lesen einige Artikel. Sie wagen kaum zu glauben, was Sie vor sich sehen. Es dauert eine Weile, bis der erste Schrecken abgeklungen ist. Sie recherchieren weiter. Sie fangen an, die Web-Foren zu lesen. Nur langsam werden Sie sich bewusst, dass unzählige andere Ihre Erfahrung teilen. Sie lernen die Begriffe: Verwirrung (Gaslighting), Idealisierung (Idealization), Abwertung (Devaluation), Entsorgung (Discarding), Triangulierung (Triangulation), Aufsaugen (Hoovering) und Ködern (Baiting). Sie fangen an, das Puzzle zusammenzusetzen. Sie erkennen all die Muster und Methoden und realisieren, dass unzählige davon auch Ihnen gegenüber angewendet wurden. Beim Lesen fühlt es sich so an, als erzähle Ihnen jemand, den Sie noch nie getroffen haben, erstaunlich zutreffend Ihre eigene Lebensgeschichte. Sie fangen an sich zu fragen: Kann das alles wahr sein? Gibt es wirklich Menschen, die andere auf diese Art behandeln? Sie recherchieren weiter. Sie lesen die Geschichten all der anderen, die Ähnliches durchmachen wie Sie. Irgendwann trifft Sie die Erkenntnis mit voller Kraft. Sie begreifen, dass Sie nicht verrückt sind. Sie werden sich bewusst, dass das, was Sie die ganze Zeit über erlebt haben, wirklich geschehen ist und unzähligen anderen ebenfalls widerfährt. Die Menschen, von denen Sie gelesen haben, die solche Taktiken gegenüber anderen anwenden, existieren wirklich. Nicht nur irgendwo dort draußen; sie existieren in Ihrer Welt. 

 

Sie wissen nicht ob Sie lachen oder weinen sollen. Sie verspüren Wut, Trauer, Hoffnungslosigkeit und einen Anflug von Erleichterung. Sie bewegen sich mit einem neuen Gefühl der Leichtigkeit, aber Sie fühlen sich auch irgendwie beschmutzt. Ihre gesamte Realität ist auf den Kopf gestellt. Sie fangen an, Ihre innersten Instinkte zu hinterfragen. Sie realisieren, dass die Beziehungsdynamiken, die Sie akzeptiert und als unumstößliche Wahrheiten hingenommen haben, in Wirklichkeit gesundheitsschädlich und dreist manipulativ sind. Sie beginnen, andere Menschen mit anderen Augen zu betrachten. Mit einem Mal achten Sie ganz bewusst auf das Verhalten anderer, sogar auf das von Menschen, die Sie schon seit vielen Jahren, vielleicht sogar Ihr ganzes Leben lang, kennen. Das Bild, das sich vor Ihnen formt, ist noch nicht völlig klar. Klar ist jedoch eines: Sie haben ein Problem. Ein Problem mit Narzissten. Und Sie haben gerade erst begonnen, die Oberfläche anzukratzen.

Die Spitze des Eisbergs

Was Sie zu Anfang vielleicht noch nicht erkennen können: Lediglich die Verhaltensweisen anderer genauer zu beobachten ist zwar sehr wichtig, aber an sich noch nicht genug. Wenn Sie sich damit zufriedengeben, an der Oberfläche des Problems zu verharren, werden Sie sich auch weiterhin in immer neue Dramen verwickeln lassen und sich dabei ständig fragen, welche Verhaltensweisen normal und welche narzisstisch sind. Entscheidend ist, dass Sie sich vergegenwärtigen, dass die von Ihnen aufgedeckten Taktiken lediglich die Spitze des Eisbergs darstellen. Das eigentliche Problem liegt sehr viel tiefer. Der Kern eines Problems ist oft deutlich schwieriger zu erkennen als sein Äußeres.

 

Möglicherweise haben Sie bisher den Eindruck gewonnen, eine einfache Lösung für Ihr Problem läge darin, sich von den Narzissten in Ihrem Leben zu trennen. Ganz so einfach ist es leider nicht. Der Weg in die Freiheit ist nur selten mit einer gut geteerten Straße zu vergleichen, die in ein neues Leben voller Abenteuer führt. Vielleicht haben Sie dies auch schon geahnt. Mit hoher Wahrscheinlichkeit ist es kein Zufall, dass Sie in die Lage geraten sind, in der Sie sich befinden. Selbst wenn Sie es schaffen, eine bestimmte Situation räumlich oder zeitlich hinter sich zu lassen, tragen Sie noch immer all die Überzeugungen, Verhaltensweisen und Paradigmen in sich, die Sie ursprünglich hineingeführt haben. Sie können sich von einem Partner trennen, sich von einem Familienmitglied distanzieren, sich neue Freunde suchen oder Ihren Job kündigen und trotzdem nach einer Weile feststellen, dass Sie schon wieder einem Narzissten in die Arme gelaufen sind, vielleicht sogar dem gleichen, der den ganzen Prozess überhaupt erst angestoßen hatte. Um Ihre Freiheit zu erlangen, brauchen Sie mehr als nur eine Veränderung in Ihrer Umgebung. Um nachhaltige Veränderungen herbeizuführen, benötigen Sie eine Strategie.

Schärfen Sie Ihr Schwert

Wie schon der Titel verrät, dient dieses Buch dazu, Ihnen eine Anleitung für Ihren persönlichen Sieg über Narzissmus an die Hand zu geben. Selbstverständlich geht es dabei nicht darum, Narzissten in einem physischen Kampf zu Boden zu ringen. Es geht darum, den Kern des Problems zu verstehen und nicht nur die Symptome. Es geht darum, die Wurzel des Problems im Narzissten zu sehen und die Wurzel des Problems in Ihnen selbst. Entscheidend ist, dass Sie begreifen, auf welche Art und Weise Sie sich unwillentlich zum Ziel von Narzissten machen. Hierfür ist es erforderlich, dass Sie Ihre Paradigmen hinterfragen, also die Bezugs- und Wertesysteme, durch die Sie die Welt betrachten und interpretieren. Nur so können Sie sich die notwendige Distanz verschaffen, um das Problem von außen zu betrachten und zu analysieren. Es geht bei Ihrer Reise außerdem darum, dass Sie sich neue innere Ressourcen erschließen, von denen Narzissten nicht wollen, dass Sie sie je entwickeln, da Sie sich hierdurch deutlich weniger empfänglich für äußere Manipulationen machen. Es geht darum, ein stabiles Grundgerüst aus neuen Überzeugungen aufzubauen, Wissen zu erlangen und Fähigkeiten zu entwickeln, die Sie stärken und ermutigen werden. Es geht darum, eine eigene, selbstbestimmte Identität zu kultivieren, frei von Scham und ungesunden Schuldgefühlen; eine Festung, die niemand ohne Ihre explizite Erlaubnis betreten darf und auch dann nur, wenn er Ihnen den gebotenen Respekt erweist. Mit der Zeit werden Ihnen diese neuen Ressourcen erlauben, auf die sonnige, narzissmusfreie Straßenseite des Lebens zu wechseln. Lassen Sie uns also gleich damit beginnen, das Grundproblem des Narzissmus in Ihrem Leben zu bekämpfen und letztendlich zu besiegen. Wir tun dies, indem wir die Narzissten in Ihrem Leben „aushungern“, indem wir ihnen die narzisstische Versorgung entziehen, die sie brauchen, um zu überleben. Das alles fängt bei Ihnen an.

Das Wichtigste zuerst

Bezeichnungen wie „narzisstische Persönlichkeitsstörung (NPS)”, „Soziopath”, „Psychopath” und „Narcopath” sind nur einige der Begrifflichkeiten, die typischerweise mit Narzissmus in Verbindung gebracht werden. Im Umgang mit extremen Ausprägungen von Narzissmus kann es hilfreich sein, solche Bezeichnungen ins Feld zu führen. Insbesondere bezogen auf gewalttätige, destruktive und akut manipulative Menschen kann ein solches vereinfachendes „Schubladendenken” gerechtfertigt sein, um uns schnell und effektiv daran zu erinnern, dass nur physische Distanz uns vor ihnen schützen kann. Hierzu sei gleich an dieser Stelle angemerkt: Der Umgang mit offen gewalttätigen und sadistischen Narzissten liegt jenseits der Zielsetzung dieses Buches. Vorgänge wie ein vollständiger Kontaktabbruch, einstweilige Verfügungen, gerichtliche Kontaktverbote und Posttraumatische Belastungsstörungen (PTBS) sind auf keinen Fall leichtzunehmen. Auch Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen sowie häusliche Gewalt liegen jenseits des Anwendungsbereiches dieser Veröffentlichung. Betroffenen wird angeraten, in jedem Fall professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen.

 

Die meisten Narzissten sind ohnehin eher im Mittelfeld, also noch im Bereich des gesellschaftlich akzeptierten Verhaltens, zu verorten und erscheinen auf den ersten Blick vergleichsweise harmlos. Der Schaden, den der durchschnittliche Narzisst anrichtet, entfaltet sich meist im Verborgenen. Seine Wirkung ist eher mit der eines langsam wirkenden Giftes zu vergleichen als mit explosiver Gewaltanwendung. Eine Beziehung mit einem Narzissten kann schwere Schäden anrichten, auch ohne dass er Sie um all Ihr Geld betrügt oder Ihnen gegenüber gewalttätig wird. Viele Narzissten setzten ihre Zielperson einem langsamen, siechenden „Tod durch Narzissmus” aus – ohne verbrecherische Absicht. Ein Großteil des von einem Narzissten angerichteten Schadens entsteht durch „unterschwellige” Verhaltensweisen: durch emotionale Ausnutzung, durch gezieltes Hervorrufen von Schamgefühlen und durch Manipulation mit dem Ziel, die Kontrolle über die Zielperson zu verstärken.

 

Der Fokus dieses Buches liegt auf dem narzisstischen Archetyp, also auf der Grundstruktur der Persönlichkeit und der Verhaltensweisen einer stark narzisstisch geprägten Person. Dieser Archetyp kann sich in vielen Erscheinungsformen manifestieren. Er kann die Form eines Vaters oder einer Mutter annehmen, die ihre Kinder instrumentalisieren, unterdrücken und in einem psychologischen „Käfig“ gefangen halten, um ihre eigenen narzisstischen Bedürfnisse zu bedienen. Er kann der Freund sein, der sich bewusst mit „Schwächeren“ umgibt, um sie niederzumachen, sich zwischen ihnen stark zu fühlen und sich bei ihnen zu „bedienen“, um sich narzisstische Versorgung zu verschaffen. Der Archetyp kann auch als Liebhaber auftreten, der seinen Partner oder seine Partnerin als reines Instrument für seine eigene Lusterfüllung behandelt und sie bewusst in einem qualvollen „Sturm” aus Emotionen gefangen hält. Er kann die Form des Vorgesetzten annehmen, der seine Angestellten mal umgarnt und ihnen schmeichelt, um sie dann in anderen Situationen wieder rücksichtslos zu kontrollieren, zu bedrohen und wie Gegenstände zu behandeln, um seine eigene Machtposition am Arbeitsplatz zu stärken. 

 

In diesem Buch wird Narzissmus nicht nur als Archetyp, sondern auch als Regime behandelt. Mit dem Begriff „Regime“ ist eine Struktur mit festen Regeln gemeint ist, die ein Narzisst kreiert und aufrechterhält, um andere zu instrumentalisieren und sie sich gefügig zu machen, sodass er durch sie narzisstische Versorgung erhält. Im Grundsatz verfolgt das vorliegende Buch den Ansatz, einen Großteil der gängigen Bezeichnungen und Theorien zum Thema Narzissmus erst einmal beiseite zu lassen, um auf diese Weise einen Blick auf „Herz und Seele” des Narzissmus zu ermöglichen, ohne dass vorgeprägte Begriffe und Denkweisen die Sicht auf den eigentlichen Kern des Problems trüben.

 

Der Einfachheit halber wird in diesem Buch der Begriff Narzisst für eine Person verwendet, die andere bewusst aus egoistischen Gründen manipuliert. Das generische Maskulinum wird in diesem Rahmen lediglich aus Gründen der Lesbarkeit für alle Arten von Personen verwendet, die sich narzisstisch verhalten. Selbstverständlich ist Narzissmus keine Frage des Geschlechts. Der Begriff narzisstisches Regime wird für eine Struktur zwischen zwei oder mehr Personen verwendet, in der eine Person die anderen kontrolliert und sich hierdurch von ihnen narzisstische Versorgung verschafft. Die Struktur kann sich aus einem „natürlichen“ Machtgefälle ergeben, wie etwa aus einem Verhältnis zwischen Elternteil und Kind oder zwischen Vorgesetztem und Angestelltem. Sie kann jedoch auch durch emotionale Manipulation in eine Beziehung ohne „natürlich“ festgelegte Machtverhältnisse eingebracht werden. Oft entsteht ein narzisstisches Regime auch aus einer Kombination von beiden Faktoren, indem beispielsweise eine hierarchische Machtposition dem Narzissten eine Legitimation dafür verschafft, sein Ziel zu kontrollieren und er auf dieser Grundlage noch zusätzlich beschließt, emotionale Manipulation einzusetzen, um die Kontrolle, die er über seine Zielperson hat, auf einem persönlichen Level noch einmal zu verstärken.

 

Als Zielperson wird in diesem Buch ein Mensch bezeichnet, der regelmäßig den Verhaltensweisen eines Narzissten ausgesetzt ist. Auch wenn es sich aus Gründen der konzeptionellen Klarheit und Verständlichkeit nicht vermeiden lässt, eine Begrifflichkeit zu wählen, die sich aus dem Verhältnis der betroffenen Person zum Narzissten ergibt, wird an dieser Stelle explizit betont, dass der Schwerpunkt der Bezeichnung darauf liegt, dass es sich um eine Person, also um einen Menschen handelt. Jeder Mensch, der unter den Handlungsweisen von Narzissten leidet, sollte sich bewusst machen, dass das Verhältnis zum Narzissten nicht seine Identität bestimmt. Selbst wenn die Rolle als Zielperson auf Sie aktuell in einem bestimmten Verhältnis zutreffen sollte, geht es nicht darum, dass Sie sich mit dieser Rolle dauerhaft identifizieren. Im Gegenteil: Der gesamte Zweck dieses Buches liegt darin, Zielpersonen von Narzissmus dabei zu helfen, ihre Freiheit wiederzuerlangen. Es geht darum, Betroffene daran zu erinnern, dass ihre wahre Identität außerhalb des narzisstischen Regimes existiert, und sie darin zu bestärken, ihre eigene Identität und ihr eigenes Selbstwertgefühl zu bestimmen. Ebenfalls der Einfachheit halber wird der Begriff „Zielperson“ in diesem Buch fallweise in Verbindung mit der Anrede „Sie“ oder „wir“ verwendet, um Sie als Leserin oder Leser als jemanden zu adressieren und miteinzubeziehen, der zu der beschriebenen Thematik in Beziehung tritt. Sämtliche Bezeichnungen sind unter dem Gesichtspunkt ausgewählt, allgemeinverständlich zu sein, ohne ein Unterdrückungsverhältnis oder eine von außen vorgegebene Rolle zu verfestigen.

 

Zu guter Letzt ist es entscheidend, zu erkennen, dass das Phänomen Narzissmus und nicht die Person, die narzisstische Verhaltensweisen ausübt, unser eigentlicher Feind ist. Wenn wir uns dazu hinreißen lassen, einen Narzissten zu hassen, bleiben wir dadurch weiterhin an ihn gebunden. Man könnte auch sagen: Wir geben freiwillig unsere Macht und Selbstkontrolle ab. Wir alle, auch Narzissten, sind unter der Oberfläche unserer Verhaltensweisen und Überzeugungen vor allem Menschen. Gerade in der Bewahrung dieser Menschlichkeit, auch und insbesondere gegenüber anderen, liegt unser Zugang zu einem Leben voller Kraft und Frieden, fernab von den Gefahren und Versuchungen des Narzissmus. Dazu kommt, dass die wenigsten Menschen sich bewusst und aus freien Stücken dazu entscheiden, Narzissten zu werden. Nicht selten wird Narzissmus von einer Generation an die nächste weitergegeben und dabei derart tief in der als „normal“ angesehenen Familiendynamik verwurzelt, dass irgendwann niemand mehr bemerkt, dass er überhaupt stattfindet, inklusive des Narzissten. Manche Menschen haben narzisstische Ausnutzung bis hin zum Missbrauch durch Eltern oder Angehörige erlebt und die entsprechenden Verhaltensweisen dadurch verinnerlicht. Andere Theorien besagen, dass einige Menschen schlichtweg mit einem verminderten „Schamvermögen“ geboren werden, sodass sich Narzissmus und manipulative Verhaltensmuster aus ihren biologischen und psychologischen Grundanlagen ergeben. Was immer auch die Hintergründe und Motivationen jedes Einzelnen sein mögen: Letztendlich sollte nicht vergessen werden, dass wir alle zu narzisstischen Verhaltensweisen in der Lage sind, wenn wir zulassen, dass wir uns zu weit von unserer eigenen Menschlichkeit entfernen.

 

Keine der Erläuterungen soll dazu dienen, Narzissmus zu entschuldigen oder gar zu rechtfertigen. Es gibt nichts zu beschönigen: Narzissmus ist schrecklich und oft grausam. Diejenigen, die ihn ausüben, nehmen bewusst oder unbewusst in Kauf, andere zu schädigen. Die vorgenommenen Erklärungen sollen lediglich daran erinnern, dass wir unseren anklagenden Zeigefinger auf die Krankheit richten sollten und nicht auf den Erkrankten. Ja, Sie werden lernen, Ihr Verhalten effektiv anzupassen, sobald Sie bemerken, dass jemand narzisstische Verhaltensweisen gegen Sie verwendet. Doch wie dieses Buch erläutern wird, liegt der nächste Schritt, sobald wir narzisstische Tendenzen in einem anderen Menschen identifiziert haben, darin, den Fokus von der anderen Person abzuwenden und auf uns selbst zu richten; auf unser Inneres, wo sich wirkliche Veränderung vollziehen kann.

Die Langzeitwirkung eines Lebens unter einem narzisstischen Regime

Paul hat einen immer wiederkehrenden Albtraum. Er ist in einer unterirdischen Höhle gefangen, umgeben von heißen Flammen. Ein intensives Gefühl der Platzangst schnürt ihn ein und erschüttert ihn bis in sein Innerstes. Er erwacht nach Luft schnappend und in panischer Angst. Er realisiert, dass er eine Panikattacke erleidet. Eine unerträgliche, grenzenlose Furcht erfüllt ihn. Er versucht verzweifelt zu entkommen, doch er findet keinen Ausweg. Er schafft es irgendwie, das Licht einzuschalten, und beginnt, im Raum auf und ab zu gehen, in dem vergeblichen Versuch, das überwältigende Gefühl des Terrors abzuschütteln. Irgendwann hastet er die Treppe hinunter und tritt durch die Haustür in die kühle Morgenluft. Die Kälte hilft ein wenig. Trotzdem dauert es noch über eine Stunde, bis das Gefühl der Panik nachlässt. Er hat keine Ahnung, warum er immer wieder solche Träume hat.

 

Cindy ist ein intelligentes, umgängliches Mädchen. Eine leichte Gezwungenheit in ihrem Lächeln ist das einzige Anzeichen für die tiefe Traurigkeit, die sie in ihrem Inneren versteckt. Trotzdem ist sie stets höflich und freundlich, sodass die Leute sich aus ihren Angelegenheiten heraushalten. Meistens tut sie gehorsam das, was andere von ihr verlangen. Bereitwillig schließt sie sich den Meinungen und Plänen anderer an. Meistens ist sie einfach nur da. Andere haben gelernt, dass sie sich darauf verlassen können, dass Cindy sich ruhig verhält und nicht widerspricht.

 

Igor ist 34, aber die meisten denken, er sei erst 25. Er ist ein Träumer. Er träumt davon, in einer Band zu spielen oder einen Bestseller zu schreiben. Er ist nicht sicher, welchen dieser Träume er genau verfolgen soll. Im Grunde genommen hat er sich noch nie kompetent oder klug genug gefühlt, um nicht nur zu träumen, sondern auch zu handeln. Noch schlimmer wird die Sache dadurch, dass er sich in seinem Callcenter-Job gefangen fühlt. Auch mit seiner Freundin Anna ist er nun schon seit 4 Jahren mal zusammen, dann wieder auseinander. Jedes Mal, wenn sie sich streiten, droht er ihr, dieses Mal wirklich Schluss zu machen, doch Annas Tränen und ihre Androhungen von Selbstmord erwecken in ihm überwältigende Schuldgefühle, sodass er bleibt. Er sehnt sich danach, die Beziehung zu beenden, doch er findet einfach keinen Ausweg.

 

Nach einer intensiven Sommerromanze bat Noah Ariana, ihn zu heiraten. Sie sagte Ja. Noah war für sie wie die Erfüllung eines Traums. Er war aufmerksam und widmete ihr all seine Energie. Er teilte all ihre Pläne und Träume und war bereit, sich auf eine dauerhafte Beziehung mit ihr einzulassen. Die beiden heirateten in einer schlichten Zeremonie. Kurz nach der Hochzeit begannen die Veränderungen. Noah wurde ihr gegenüber immer kritischer. Er reagierte mit Wutanfällen, wenn sie später als erwartet nach Hause kam. Ariana hatte erste Anzeichen dieser Wut schon vor der Hochzeit bemerkt, doch sie hatte sich nicht zu viele Gedanken darüber gemacht, da Noah sich immer schnell entschuldigte und dabei eine charmante, jungenhafte Verzweiflung an den Tag legte. Auch Noahs Hang zur Überheblichkeit trat nach der Hochzeit immer stärker in Erscheinung. Er trat immer großspuriger auf und machte keinen Hehl aus seiner Überzeugung, dass er allen anderen in sämtlichen Belangen bei Weitem überlegen war. Er liebte es, die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, und erzählte jedem, der sich finden ließ, endlose Geschichten über sich selbst, ohne jemals Interesse an den Erzählungen anderer zu zeigen. Er verfügte über einen gewissen Charme, sodass die meisten Menschen ihn tolerierten. Ariana aber war zutiefst unglücklich in ihrer Beziehung. Sie hatte die Nase voll von Noahs Wutausbrüchen, die immer wieder willkürlich und ohne erkennbaren Anlass auftraten. Nach vierzehn Jahren Ehe, drei Kindern und dem Verlust der meisten ihrer Freunde war sie jedoch zu eingeschüchtert von der Vorstellung, ihn zu verlassen und noch einmal von vorn zu beginnen.

Warum ich? Wie man zum Ziel von Narzissten wird

Hol sie dir, solange sie noch jung sind

Solange wir noch Kinder sind, sind wir neugierig, empfindsam, verletzlich und vor allen Dingen prägbar. Wir nehmen alles um uns herum wie Schwämme in uns auf. Dabei formt sich auch die grundsätzliche Art und Weise, in der wir später im Leben mit anderen in Beziehung treten. Als Kind ist es normal, dass wir diejenigen Menschen bewundern und verehren, die für uns verantwortlich sind. Unsere Hilflosigkeit lässt uns keine andere Wahl, als ihnen absolute Macht über unser Leben einzuräumen. Diese Macht können andere verwenden, um uns entweder zu einem selbstständigen Leben zu erziehen oder aber um uns zu instrumentalisieren, um damit ihr eigenes Geltungsbedürfnis zu bedienen. Narzissten entscheiden sich für letztere Option.

 

Eine natürliche Machtposition fällt in den meisten Fällen unseren Eltern zu, doch sie kann ebenso auch auf Onkel und Tanten, Freunde der Familie, Lehrer oder Vereinstrainer zutreffen. Ein Narzisst umgibt sich gern mit prägbaren jungen Menschen, die zu ihm aufschauen, um sein eigenes Machtempfinden zu stärken. Eine solche Position ermöglicht es ihm, auf schamlose Weise und auf Kosten des Kindes die Rolle eines „weisen Anführers” einzunehmen. Darüber hinaus glaubt der Narzisst, dass seine Machtposition ihm das Recht verschafft, über das Kind zu urteilen, es zu kontrollieren und es niederzumachen, wenn es seine Erwartungen nicht erfüllt. In der von Selbstüberschätzung geprägten Welt des Narzissten steht es ihm frei, die ihm übertragene Verantwortung dafür zu nutzen, sein eigenes Ego aufzubauen.

 

Das Gefährliche (und Traurige) ist, dass all dies zu einer Zeit passiert, in der sich das Kind in keiner Form bewusst sein kann, was eigentlich vor sich geht. Es weiß nicht, was mit ihm passiert und warum. Ein voll ausgeprägtes Bewusstsein entwickelt sich erst im Jugendlichen- und Erwachsenenalter. Solange es noch verletzlich und abhängig ist, kann ein Kind leicht dafür eingespannt und instrumentalisiert werden, einem anderen narzisstische Versorgung zu liefern, ohne wirklich zu bemerken, was mit ihm geschieht. Ist es einer solchen Instrumentalisierung erst einmal lange genug ausgesetzt, wird sie für das Kind irgendwann so selbstverständlich wie die Luft zum Atmen. Das Kind wird durch die Manipulation auf eine Lebensrolle vorbereitet, die darin besteht, andere unaufhörlich zu verehren und von ihnen abhängig zu sein.

 

Wirkliche Führungsverantwortung besteht darin, anderen den Weg zu zeigen und ihnen die Fähigkeiten zu vermitteln, die sie benötigen, um ihn zu beschreiten. Es geht darum, sie zu ermächtigen, irgendwann ihren eigenen Weg zu gehen. Ein Narzisst in einer Führungsrolle tut das Gegenteil. Ein solcher Mensch nutzt seine Macht, um seine Zielperson zurückzuhalten und zu verhindern, dass sie sich von dem Weg entfernen kann, den er ihr vorgibt. Er unterstützt ein Kind nur solange, wie es sich an die von ihm definierten Grenzen hält, und auch das nur, solange es die Rolle spielt, die er ihm vorschreibt und die es ihm erlaubt, das Kind für seine narzisstische Versorgung zu benutzen. Der Narzisst projiziert sein Ego auf das Kind. Anstatt seine eigenen Bedürfnisse zurückzustellen, um das Wachstum des Kindes zu fördern, erwartet er, dass das Kind sich ihm anpasst. In diesem Rollentausch liegt der Kern der Beziehung zwischen dem Narzissten und dem Kind. Die beschriebene Dynamik kann zu allerlei Entwicklungshemmungen auf der Seite des Kindes führen. Sie erzieht es dazu, empfänglich für narzisstische Beeinflussung zu sein. Das Kind wächst mit der Überzeugung auf, dass es in einer Beziehung darum geht, eine bestimmte Rolle zu spielen und sich den Wünschen und Bedürfnissen anderer Menschen anzupassen. Darin liegt eine der größten Lügen, die manchen Kindern eingeredet wird: dass immerwährende Abhängigkeit von anderen eine unumstößliche Tatsache des Lebens ist. In vielen Fällen zieht sich eine solche Lüge durch das ganze Leben, bis hinein ins Erwachsenenalter.

Die ideale Zielperson

Manche Menschen geraten unwissentlich in einem jungen Alter unter den Einfluss eines narzisstischen Regimes. Andere entwickeln sich dorthin, weil sie besonders empfindsam und sensibel veranlagt sind. Bei der letzten Gruppe handelt es sich um sogenannte Empathen. Diese weisen oft folgende Merkmale auf:

 

  • Sie denken, fühlen und handeln intuitiv und verfügen über eine hohe emotionale Intelligenz. 
  • Sie erleben ihre eigenen Gefühle intensiver als andere; hierdurch fällt es ihnen manchmal schwer, rational und logisch zu agieren.
  • Sie haben ein besonderes Gespür für die Gefühle anderer; gleichzeitig haben sie Schwierigkeiten, sich gegen die Gefühle anderer „abzuschirmen“, und fangen im Gespräch oft an, diese selbst zu empfinden. Ein Empath muss daher besonders aufpassen, dass ihm der Umgang mit anderen, die starke Gefühle ausdrücken, nicht seine gesamte Energie entzieht.
  • Sie sind gute Zuhörer und „opfern” ihre Zeit und Aufmerksamkeit dem Mitteilungsbedürfnis anderer auch über längere Zeiträume hinweg. 
  • Sie verspüren ein starkes Verlangen danach, mit anderen auf einer tief emotionalen Ebene eine Verbindung einzugehen. Dieses Verlangen prägt ihr Handeln oft stärker als praktische Vernunft oder gesunder Menschenverstand.
  • Teilweise fällt es ihnen schwerer als anderen, mit den Herausforderungen des Alltags Schritt zu halten. Sie neigen daher eher dazu, sich nach jemandem mit „höherer Macht“ zu richten, der ihnen Beistand und Richtung geben kann.
  • Sie sind anfälliger als andere für Manipulation und Beeinflussung. 

 

Der emotionale „Kosmos“ eines Empathen ist äußerst reich und vielfältig. Empathen sind oft Künstler und Träumer. Sie inspirieren andere mit ihrer Energie und mit ihrer Begeisterung für das Leben. Sie können heilende und beruhigende Einflüsse auf ihre Umgebung ausüben und sind in vielen Fällen kreativ und spirituell veranlagt. Sie sind in der Lage, den Alltag anderer aufzuheitern, indem sie einfach nur sie selbst sind. Doch dieser Reichtum hat auch seine Schattenseiten:

 

  • Empathen sehnen sich stärker nach Liebe und Verbindung als die meisten Menschen. Entsprechend leiden sie auch stärker, wenn sie sich ausgegrenzt und isoliert fühlen. Ihr tiefes Bedürfnis nach emotionaler Verbindung führt dazu, dass es ihnen schwerfällt, auf gesunde Weise Grenzen zu ziehen und durchzusetzen, dass andere diese nicht überschreiten.
  • Empathen reagieren oft sensibler auf emotionale Reize und Einflüsse als Nicht-Empathen. Weil ihre emotionalen „Antennen” besonders empfindlich eingestellt sind, reichen oft schon kleine Angriffe von außen, um sie nachhaltig zu erschüttern. Wenn jemand anderes in ihrem Umfeld intensive Gefühle wie Wut, Trauer oder Empörung zum Ausdruck bringt, kann es sich für einen Empathen wie ein regelrechtes „Bombardement” anfühlen. Weitere Folgen solcher Angriffe sind ein geschwächtes Immunsystem und gesteigerte Angstgefühle. 
  • Oft kann schon der Umgang mit anderen Menschen in einem Empathen Gefühle der Erschöpfung und Ermüdung auslösen. Nicht selten werden Empathen schneller krank und sind öfter nervös und ängstlich. Der Grund dafür liegt nicht etwa in fehlender Kraft und Stärke, sondern darin, dass Gefühlsregungen wie Angst, Scham oder Sorgen einen Empathen leichter überwältigen können. Die Tatsache, dass sein Empfindungsapparat ständig durch äußere Einflüsse „betäubt“ und „geblendet“ wird, macht es dem Empathen schwer, die Welt um sich herum klar und ohne Einschränkungen wahrzunehmen.
  • Viele Empathen benötigen zu jeder Zeit eine verlässliche Struktur. Sie brauchen eine Umgebung, die es ihnen erlaubt, sich zurückzuziehen, um von ihren Emotionen nicht überwältigt zu werden. 

 

Sämtliche der aufgeführten Gründe tragen dazu bei, dass ein Empath eine nahezu perfekte Zielperson für einen Narzissten darstellt. Seine innere Schönheit, seine verminderte Fähigkeit zur Abgrenzung, seine leicht zu bedrohende Wahrnehmung der eigenen inneren Stärke und sein starkes Bedürfnis danach, Verbindungen mit anderen einzugehen, machen den Empathen zu einer regelrechten Goldgrube für narzisstische Versorgung. Ein Narzisst muss lediglich den Empfindungsapparat eines Empathen so lange „bombardieren“, bis dieser keinen Widerstand mehr leisten kann und sich ihm fügt. Anschließend kann er damit beginnen, ihm seinen Willen aufzuzwingen.

 

Die Tatsache, dass Empathen in ihrem Umfeld oft nur wenig Verständnis und Unterstützung erfahren, trägt zusätzlich dazu bei, dass sie besonders anfällig für Manipulationen sind, sobald Narzissten in ihr Leben treten. Es erfordert einiges an Geschick und im besten Fall auch Unterstützung, um die nicht selten turbulente innere Welt eines Empathen in den Griff zu bekommen. In vielen Familien, besonders in konservativen, traditionellen und in solchen, in denen Missbrauch vorkommt, wird das Bedürfnis eines Empathen, verstanden und unterstützt zu werden, weitestgehend vernachlässigt. Besonders Männern wird oft eingeredet, sie müssten sich für ihre vermeintliche „Schwäche“ schämen. Da auf diese Weise zentrale Bedürfnisse des Empathen oft ein Leben lang ungestillt bleiben und niemand ihm die Fähigkeit vermittelt, mit emotionalen „Stürmen“ umzugehen, verfügen Empathen oft über ein vermindertes Selbstwertgefühl und empfinden ständig einen überwältigenden Hunger nach Liebe und Zuneigung, ohne wirklich zu verstehen, warum. Ein Narzisst „wittert“ dieses Muster wie ein Hai, der im Meer die Spur von Blut aufnimmt, und schnappt zu. Der Narzisst weiß genau, wie er sich verhalten muss, um die Eigenschaften eines Empathen zu seinem Vorteil auszunutzen. Der Charme des Narzissten kann für einen Empathen berauschend und unwiderstehlich sein. Eine besondere Versuchung liegt darin, dass der Narzisst ihm eine Struktur anbietet, selbst wenn diese letztlich nur zu seiner Unterdrückung dient und überwiegend der Narzisst von ihr profitiert.

 

Sich als Empath und/oder als jemand zu identifizieren, der in ein narzisstisches Regime hineingeboren wurde, kann Ihnen dabei helfen, zu verstehen, wie Ihre Herkunft Ihr bisheriges Leben beeinflusst hat. Es kann Ihnen außerdem dabei helfen, zu realisieren, dass viele der Entwicklungen, die Sie durchgemacht haben, nicht Ihre Schuld sind. Dass Allerwichtigste aber ist: Der Schritt kann Ihnen dabei helfen, an genau dem Punkt in Ihrem Leben, an dem Sie sich jetzt gerade befinden, einen Schlussstrich zu ziehen und hier und heute die Entscheidung zu treffen, Ihre Zukunft selbst in die Hand zu nehmen. Welche Richtung Sie von hier aus einschlagen, liegt ganz allein an Ihnen.

——– ENDE DER LESEPROBE ——–