Die narzisstische Mutter ist für erwachsene Kinder des Narzissmus eine Quelle großer Frustration und Furcht. Über sie zu sprechen ist ein heikles Thema. Von der Kindheit bis zum Erwachsenenalter bleibt sie ein dunkler Schatten, dem die Missbrauchten zu entkommen versuchen. Aus diesem Grund ist es wichtig, das Thema nicht nur zu erforschen, sondern an einer dauerhaften Lösung zu arbeiten. Die Entwirrung des Einflusses, den die Mutter lebenslang ausübt, kann das Kind auf unvorstellbare Weise positiv beeinflussen. Es kann ihm ermöglichen, endlich aufzublühen und sein Leben in vollen Zügen zu leben.
Doch wo sollte man anfangen? Die Antwort liegt, wie bei allen Beziehungen, in der Kindheit.
Der Einfluss der Mutter
Selbst für einen Erwachsenen ist es unmöglich, das Problem allein mental zu lösen. Die narzisstische Mutter behält ihren Einfluss, den sie lange vor der Entwicklung der Denkfähigkeit des Kindes etabliert hat. Die Dynamik zwischen einem Kind und seiner Mutter ist tief in seinem Unterbewusstsein verankert. Nur durch eine Kontaktaufnahme mit seinem inneren Kind kann der Erwachsene bleibende Veränderungen herbeiführen.
Unsere Mutter, ob sie nun Narzisstin ist oder nicht, ist die Figur, von der alle unsere Beziehungen ausgehen. Sie begegnet uns vor dem Rest unserer Familie. Die Bindung zu ihr entsteht und bleibt tief in unserem Unbewussten, von wo aus sie uns bis ins Erwachsenenalter hinein beeinflusst. Was es so schwierig macht, die narzisstische Mutter zu verstehen und sich von ihr zu lösen, ist, dass die Bindung nicht mit der Person an sich besteht. Vielmehr verehren wir unbewusst einen Archetyp. Unsere reale Mutter ist in unserem Geist an das Konzept der „guten Mutter“ gebunden.
Gute Mutter, böse Mutter
In der Phase, in der ein Kind beginnt, sich an seine Mutter zu binden, ist es verletzlich, sensibel und zutiefst verunsichert. Die Mutter ist die Lebensader des Kindes. Sie ist sein einziger Weg, um zu überleben und zu wachsen. Für das junge Kind ist die Mutter überlebensgroß. Wenn es zu ihr aufschaut, erscheint sie ihm wie ein göttliches Wesen.
Ein Verlassenwerden durch die Mutter ist für das Kind gleichbedeutend mit dem Tod. Aus diesem Grund beobachtet es mit allergrößter Wachsamkeit, wie die Mutter auf es reagiert. Der Anblick einer wütenden oder abweisenden Mutter löst Panik und Verzweiflung in ihm aus. Die Erfahrung ist das Äquivalent zu jemandem mit extremer Flugangst in einem Sturm, welcher das Flugzeug innerhalb einer Sekunde um hundert Meter fallen lässt.
Dazu kommt, dass das Kind, während es sein Ego entwickelt, die Welt zunächst nur in Schwarz-Weiß-Denken betrachten kann. Es begreift nicht, dass auch andere Menschen in ihrem Leben Stress und schlechte Laune haben oder sich mit Kindheitstraumata auseinandersetzen müssen. Wird das Kind mit überwältigenden Emotionen konfrontiert, führt sein Schwarz-Weiß-Denken, gepaart mit seiner extremen Angst, dazu, dass es sich spaltet (engl.: Splitting).
Splitting: Das Kind teilt seine Welt
Wenn die Mutter das Verhalten des Kindes spiegelt, auf seine Bedürfnisse eingeht und dafür sorgt, dass es sich sicher fühlt, projiziert das Kind auf sie das Ideal der „guten Mutter“, die göttlich und vollkommen ist. Ist die Mutter hingegen wütend auf das Kind, vernachlässigt es oder geht nicht ausreichend auf seine Bedürfnisse ein, projiziert das Kind auf sie die „böse Mutter“, die zerstörerisch und böse ist.
Das Kind spaltet sich auf diese Weise, um mit den intensiven Gefühlen, die es nicht verarbeiten kann, irgendwie umzugehen. Für das Kind ist es wichtig, die „böse Mutter“ zu hassen und seine Wut auf sie zu richten. Der Reflex hilft ihm, das „perfekte“ Bild der guten Mutter aufrechtzuerhalten, die es niemals verlassen würde. Dies wiederum ermöglicht es dem Kind, seiner furchtbaren Angst vor dem Verlassenwerden zu entkommen.
Je missbräuchlicher die Mutter dem Kind gegenüber ist, desto überwältigender ist der Schrecken, den es verarbeiten muss, und desto stärker spaltet sich das Kind, um mit ihm fertig zu werden. Es klammert sich noch fester an das Bild der „guten Mutter“, um seine Angst und Furcht zu mildern.
Die Versöhnung von Gut und Böse
Im Idealfall spiegelt die Mutter das Kind in den meisten Fällen wider, geht auf seine Bedürfnisse ein und bietet ihm Liebe und Akzeptanz. Wenn die Mutter das Kind einmal unweigerlich (in den Augen des Kindes) vernachlässigt und das Kind seine Wut gegen sie richtet, bleibt die Mutter ruhig. Auf diese Weise kann sich das Kind ausreichend an die gute Mutter binden und anfangen zu erkennen, dass die Person, die es liebt (die gute Mutter) und die Person, die es hasst (die böse Mutter), ein und derselbe Mensch ist.
Hierdurch überwindet das Kind seine Spaltung. Die Konstrukte von Gut und Böse vermischen sich und das Kind fängt an, einen Menschen zu sehen, nicht ein Konstrukt seines Verstandes. Das Denken des Kindes lässt nun Grautöne zu. Die Mutter ist gut und böse, und das ist in Ordnung, weil ihre „bösen“ Teile nicht dazu führen, dass sie das Kind verlässt.
Wenn die Mutter dem Kind erlaubt, sich mit ihr zu identifizieren, unter ihren Fittichen zu wachsen und sich dabei sicher zu fühlen, kann das Kind die gute Mutter ausreichend verinnerlichen, um schließlich über sie hinauswachsen. Dieser Reifungsprozess erfordert vom Elternteil Geduld und Unterstützung. Das Kind braucht Zeit, um die gute Mutter zu erfahren und sie dann zu transzendieren. Es gibt keine Abkürzungen.
Wenn die „gute Mutter“ gekapert wird
Ist die Mutter narzisstisch, wird es für das Kind viel schwieriger, seine ursprüngliche Spaltung aufzulösen. In einer gesunden Beziehung erlebt das Kind die gute Mutter zu seinen eigenen Bedingungen. Seine Bedürfnisse und Wünsche werden von der Mutter befriedigt. Dies flößt dem Kind Vertrauen ein und ermöglicht ihm, ein hohes Selbstwertgefühl zu entwickeln. Hierdurch bietet sich dem Kind die Freiheit, unabhängig von der Mutter zu handeln, ohne Angst haben zu müssen, ihre Liebe zu verlieren.
Eine narzisstische Mutter hingegen legt nur dann das Verhalten einer „guten Mutter“ an den Tag, wenn das Kind sich so verhält, wie sie es erwartet. Wenn das Kind negative Emotionen zeigt, die narzisstische Mutter verärgert oder sich ihr widersetzt, fällt sie schnell in Muster einer schlechten Mutter. Sie entfesselt ihre Wut gegen das Kind, beschämt es oder kehrt ihm den Rücken. Die Folgen eines solchen Verlusts der guten Mutter sind für das Kind verheerend. Erinnern wir uns daran, dass für das Kind Verlassenheit den Tod bedeutet. Um sich vor der damit einhergehenden Panik zu retten, lernt das Kind: Wenn ich die gute Mutter will, muss ich mich genau so verhalten, wie sie es erwartet. Das Kind löst seine Spaltung vorübergehend auf, indem es absoluten Gehorsam annimmt.
Narzisstische Mutter: Die Folgen
Die beschriebene Dynamik setzt sich im Wesen des Kindes fest. Die narzisstische Mutter hält das Kind als Geisel, indem sie das grundsätzliche Fundament seines Lebens bedroht. Wächst das Kind in einem solchen Umfeld zum Erwachsenen heran, verliert es das Bewusstsein für diesen Umstand. Es lebt die Dynamik weiter aus, ohne es zu wissen. Ein solcher Mensch gerät leicht in Panik, wenn seine Bezugsperson, etwa ein Partner oder Freund, Missfallen ausdrückt. Er sieht sofort die Beziehung als Ganzes bedroht und neigt dazu, sich in Fügsamkeit und Gehorsam zu stürzen.
Dies ist eine Folge davon, dass die narzisstische Mutter unberechenbar, egoistisch, manipulativ, kontrollierend und missbrauchend ist. Das Festhalten an der guten Mutter ist für das Kind eine schwierige und frustrierende Arbeit, über der man verrückt werden kann. Der Kern des Problems besteht darin, dass das Kind seine verzweifelte Sehnsucht nach der guten Mutter nicht loslassen kann. Es hat kein Bewusstsein ihrer Existenz in seinem Kopf und keine Möglichkeit, zu beweisen, dass es sie nicht gibt. Ein solcher Mensch lebt mit einem überwältigenden Impuls, der ihn drängt, sich verzweifelt an ihr festzuklammern.
Prägung fürs Leben
Wenn das Kind es aufgibt, sich die Liebe seiner narzisstischen Mutter zu verdienen, bemerkt sie diesen Rückzug. Häufig bringt sie als Reaktion wieder die gute und fürsorgliche Mutter zum Vorschein, um das Kind zurückzugewinnen. Das Kind erliegt dann der Versuchung, wieder die „gute Mutter“ zu projizieren, und tritt unwissentlich zurück ins Spiel der narzisstischen Mutter ein. Dies erlaubt ihr, wieder die Kontrolle zu übernehmen.
Diese scheinbar willkürlichen Wechsel zwischen guter und böser Mutter verwirren das Kind zutiefst. Die böse Mutter zu hassen ruft bei ihm Scham und Schuldgefühle hervor. Umso stärker fühlt es sich dazu gedrängt, hart zu arbeiten, um die gute Mutter aus seiner narzisstischen Mutter „herauszuholen“. Es verehrt und vergöttert die narzisstische Mutter in der Hoffnung, dadurch die Mutter hervorzubringen, die es so verzweifelt braucht. Dieses „Stockholm-Syndrom“ kann einen Erwachsenen ein Leben lang gefangen halten.
Was diesen ungesunden Zyklus am Laufen hält, ist der Umstand, dass die narzisstische Mutter niemals die einfühlsame, liebevolle Person sein wird, nach der das Kind verzweifelt sucht. Dem Kind bleibt nur die Wahl, sich zu fügen und den Mund zu halten oder die Folgen zu erleiden: überwältigende Scham und Schuldgefühle. Es bleibt süchtig nach der Wärme und Sicherheit der guten Mutter. Nach einer gewissen Zeit wird das Kind in der Regel genau so, wie es sich die narzisstische Mutter wünscht. Es fügt sich in die Ordnung ein, die ihm die Mutter vorgibt. Tief in seinem Inneren bleibt das Kind jedoch einsam, frustriert und tief verzweifelt. Es wird weder gehört noch verstanden oder geliebt. Es spielt lediglich die Rolle des guten, „braven“ Kindes.
Eine neue Hoffnung
Hoffnung entsteht, wenn das Kind anfängt, die Dysfunktionalität des Spiels zu erkennen. Die reine Erkenntnis reicht noch nicht aus, um die Störung zu beheben. Die Kraft der Projektion der guten Mutter ist zu unwiderstehlich. Damit das Kind der Dysfunktion seiner Beziehung zur narzisstischen Mutter entkommen kann, muss es das Konzept der guten Mutter umarmen und sich ihr hingeben: durch einen anderen Menschen.
Der Weg zur Freiheit führt durch die gute Mutter, aber es liegt an dem Betroffenen, sie durch eine Person zu ersetzen, die sie repräsentiert. Die narzisstische Mutter wird niemals die Liebe und das Einfühlungsvermögen aufbringen, die das innere Kind des Erwachsenen benötigt. Ein geeigneter Weg, um die gute Mutter in einem anderen Menschen zu finden, liegt darin, sich eine weibliche Therapeutin zu suchen und ihr Vertrauen und Glauben entgegen zu bringen.
Anfangs kann es sich seltsam anfühlen, sich bewusst zu werden, was man dort versucht. Dies ist normal und sollte akzeptiert werden. Viel wichtiger ist ohnehin, dass der unbewusste Prozess des Anhängens an eine neue Mutterfigur und der Bindung an sie sich in seinem eigenen Tempo vollziehen kann.
Die Dynamik der Therapie
Wenn die Therapeutin selbstlos und einsatzbereit genug ist, wird der Erwachsene schließlich in der Lage sein, langsam seine Deckung zu senken und sich von der Therapeutin temporär „verkindlichen“ zu lassen. Wenn die Therapeutin über genügend Einfühlungsvermögen und Verständnis verfügt, wird das Kind im Betroffenen beginnen, sein Trauma in einer sicheren Umgebung neu zu erleben. Dies führt schließlich durch das Trauma hindurch und zur Heilung. Natürlich hat die Therapeutin ihre eigenen Fehler und Probleme, doch sie ist in der Lage, diese vor der Bürotür zurückzulassen. Hierdurch stellt sie sicher, dass ihr Klient die „Gute-Mutter“-Projektion ausreichend und ungehindert reproduzieren kann.
Mit der Zeit wird der Erwachsene beginnen, die gute Mutter konsequent und wahrhaftig zu erleben. Hierdurch kann er anfangen, den Umstand zu betrauern, dass er sie niemals in seiner narzisstischen Mutter finden wird. Er wird beginnen, die Wahrheit zu sehen und zu erfahren: Die gute Mutter als Person existiert nicht. Sie ist ein Konstrukt seines Geistes, an das er sich sein ganzes Leben lang geklammert hat.
Um zu reifen, muss jeder Mensch die gute Mutter zuerst ausreichend erfahren, um sie dann schlussendlich loszulassen. Darin liegt ein Initiationsritus, den wir alle brauchen. Der Erwachsene beginnt diesen Prozess, indem er seine Sehnsucht auf eine Person richtet, die auf seine Bedürfnisse eingehen kann. Das Büro der Therapeutin ist hierfür eine sichere Umgebung. Hier kann sich der Erwachsene kontrolliert mit der guten Mutter verbinden. Die Grenzsetzung der Therapeutin bietet dem Kind im Erwachsenen einen sicheren Raum, in dem es die gute Mutter ohne die plötzliche Unterbrechung durch die böse Mutter wirklich erfahren kann.
Splitting überwinden: Die sterbliche Frau
Es ist unmöglich, die gute Mutter erstmals wirklich zu erfahren und sie dann sofort wieder loszulassen. Der Erwachsene, der sie als Kind nie erfahren durfte, muss sie zuerst erleben. Hierbei ist entscheidend, dass er sie zu seinen eigenen Bedingungen erlebt. In der Praxis der Therapeutin muss der Erwachsene „unzensiert“ denken und sprechen können. Hierdurch lernt er, dass er sich ausdrücken darf, ohne sich schämen zu müssen. Er muss sich verletzlich machen wie ein Kind. Er muss der Therapeutin sein tiefstes Wesen offenbaren und ihr erlauben, sich mit ihm zu verbinden und es zu akzeptieren.
Mit der Unterstützung der Therapeutin wird der Erwachsene beginnen, die gute Mutter zu erleben, und dann langsam lernen, um sie zu trauern. Der Filter seiner „rosaroten Brille“ wird sich langsam auflösen und der Erwachsene beginnt, seine Therapeutin nur noch als einen Menschen zu sehen: eine Frau mit bewundernswerten Eigenschaften, aber auch mit Fehlern und „schlechten“ Elementen.
Vor allem aber wird der Erwachsene beginnen, seine eigene Mutter klarer zu sehen: als eine tief verletzte Person, die ein gefährliches Spiel spielt. Es ist das Spiel selbst, das dem Erwachsenen am deutlichsten werden wird. Je tiefer der Erwachsene dieses eigentümliche Konstrukt erforscht, desto klarer wird es für ihn werden. Schließlich wird das Kind in seinem Inneren zum Leben erwachen. Der Erwachsene wird Frieden und Freude erfahren, von deren Existenz er nicht einmal geahnt hat. Er wird anfangen aufzublühen und sich in der Wärme des Lebens zu sonnen, ungehindert vom Schatten der narzisstischen Mutter.
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Natürlich kann nicht nur die Mutter in einer Familie narzisstisch sein. Jeder Elternteil kann bösartigen Narzissmus entwickeln. Wie ein Narzisst eine Familie nutzt, um sich Versorgung zu erschaffen, zeige ich in meinem Artikel „Die narzisstische Familie erklärt“. Um die Dynamik einer narzisstischen Beziehung besser zu verstehen und um Hilfe bei der Genesung von narzisstischem Missbrauch zu erhalten, können Sie einen Blick in mein Buch „Sieg über Narzissmus“ oder den Nachfolger „Neuanfang nach Narzissmus“ werfen.