Wer es geschafft hat, sich aus einer narzisstischen Beziehung zu befreien, weiß: Die anschließende Heilung kann ein langwieriger und schmerzhafter Prozess sein. An manchen Tagen kann es sich anfühlen, als stecke man in einem undurchdringlichen Nebel fest, der einen in einen Zustand absoluter Verzweiflung versetzt.
Der Grund ist, dass ein Mensch, der lange einem narzisstischen Missbrauch ausgesetzt war, häufig unter Langzeitfolgen leidet. Zu diesen gehören ein Verlust des Selbstvertrauens, der Willenskraft und der Fähigkeit, Grenzen zu ziehen. Narzissten lassen uns in einem „entmachteten“ Zustand zurück. Sie konditionieren uns dazu, von ihnen abhängig zu sein und uns unselbstständig zu fühlen.
Die Wunden, die eine narzisstische Beziehung hinterlässt, können nicht an einem einzigen Tag geheilt werden. Wir sollten also nicht zu sehr auf kurzfristige Fortschritte hoffen, da wir sonst leicht den Mut verlieren. Stattdessen sollten wir darauf vertrauen, dass wir, wenn wir regelmäßig an uns arbeiten, Fortschritte machen werden. Oft bemerken wir diese erst im Rückblick und nach einiger Zeit.
Praktisch bedeutet das: Haben Sie sich aus einer narzisstischen Beziehung befreit, sollten Sie, statt hektisch all das „aufholen“ zu wollen, was Sie „verpasst“ haben, Tag für Tag, Schritt für Schritt an sich arbeiten – geduldig, aber beharrlich. Vertrauen Sie darauf, dass Sie mit der Zeit die nächste Stufe Ihrer Heilung erreichen werden.
Zwischendurch kann es sich anfühlen, als ob Sie keinerlei Fortschritte machen. Um diese Wahrnehmung zu korrigieren, kann es helfen, sich vorab eine Übersicht zu verschaffen, welche Stufen einen auf dem Weg der Befreiung vom Narzissmus erwarten. Häufig erlebte Phasen dieser Entwicklung lassen sich wie folgt beschreiben:
Stufe 1: Toxische Scham freisetzen
Toxische Scham ist das Gefühl, nie gut genug zu sein – weder für Beziehungspartner, noch für die Welt, noch für sich selbst. Sie erzeugt ein Gefühl der Gefangenschaft und der Verstrickung, das so einengend und endlos wirken kann, dass eine Befreiung unmöglich erscheint.
Zu Anfang, bevor sich Betroffene durch positive Erlebnisse vor Augen führen konnten, dass eine Befreiung möglich ist, hilft es, sich Folgendes bewusst zu machen: Toxische Scham ist etwas, das der Narzisst bewusst in Ihnen hervorgerufen hat, um Sie zu entmachten und zu kontrollieren. Scham ist weder Ihr „Normalzustand“ noch etwas, mit dem Sie für den Rest Ihres Lebens zurechtkommen müssen.
Um sich aus toxischer Scham zu befreien, müssen Sie die Kräfte in sich wiederentdecken und aktivieren, die der Narzisst unterdrückt hat. Sie müssen Ihre Willenskraft und geistige Klarheit zurückgewinnen, um Möglichkeiten zu erkennen und zu nutzen, entschlossen zu handeln und auf der „Welle“ Ihrer frei dahinfließenden Lebensenergie in die Freiheit zu reiten. Dafür müssen Sie den falschen Glaubenssatz ablegen, dass ein spontanes, energiegefülltes Leben etwas ist, das nur anderen offensteht, aber nicht Ihnen.
Der Prozess zur Freisetzung toxischer Scham kann zu Anfang starke Angstgefühle hervorrufen. Es ist entscheidend, dass Sie sich ihm trotzdem stellen. Die meisten Zielpersonen von Narzissmus haben gelernt, Schamgefühle entweder aktiv zu verdrängen oder sich durch permanente Beschäftigung von ihnen abzulenken. Dies sind jedoch nur kurzfristige „Linderungsmittel“ und keine Lösungen. Um sich von Ihrer toxischen Scham zu befreien, müssen Sie üben, bei ihr und in ihr zu bleiben.
Wenn Sie dies zum ersten Mal probieren, kann es sein, dass Ihr Körper aktiv versucht, sich dem Prozess zu widersetzen oder sich ihm zu entziehen. Möglicherweise spüren Sie ein Stechen in der Brust, einen rapiden Abfall Ihres Selbstwertgefühls oder Ihre Gedanken schweifen immer wieder ab.
Was viele Menschen nicht wissen: Es ist nicht nur die Dunkelheit, also verdrängte und unverarbeitete negative Gefühle, die Ihr Körper fürchtet. Wer im rigiden System eines Narzissten leben musste, fürchtet auch die positive Lebenskraft, denn Leben bedeutet Fluss, und Fluss lässt sich nicht in Systeme zwängen, auch nicht in die, die uns lieb sind und an die wir uns gewöhnt haben.
Toxische Scham freizusetzen bedeutet, sich ihr anzunähern und sie auszuhalten, wenn sie aus einem herausbricht, auch wenn man glaubt, dass ihre Wucht einen in Stücke reißen wird. Anders gesagt: Um uns von den Folgen von Narzissmus zu heilen, müssen wir akzeptieren, dass es auf einer emotionalen Ebene zunächst einmal schlimmer werden muss, bevor es besser werden kann. Wir müssen die „Rüstung“ unserer Ablenkungs- und Bewältigungsmechanismen ablegen, die uns zwar kurzfristig schützt, aber langfristig einsperrt. Wir müssen aushalten, was mit uns und in uns geschieht, indem wir in uns und bei unseren Gefühlen bleiben.
Durchlebt man einen Ausbruch toxischer Scham, kann es sich anfühlen, als sprudle die Dunkelheit aus einer nie versiegenden Quelle hervor und das eigene Leiden würde niemals enden. Man hat das Gefühl, von Traurigkeit und Verzweiflung erdrückt zu werden. Jedoch sind dies nur vorübergehende Phänomene, die Sie zurück in Ihre alten Bewältigungsmechanismen treiben wollen.
Die Wahrheit ist: Mit genügend Mut und Vertrauen werden Sie die Dunkelheit aushalten und irgendwann ein Licht erblicken. Um an diesem Punkt zu gelangen, müssen Sie die Scham ruhig, aber bestimmt auffordern, Sie zu verlassen, sobald sie dazu bereit ist.
Das bedeutet praktisch: Wir versuchen nicht, der überwältigenden Scham, die unverarbeitet in uns lauert, unseren Zeitplan aufzuzwingen und sie aus uns „herauszupressen“. Vielmehr erkennen wir an, dass es einen Grund gibt, warum sie existiert und in uns steckt. Wir verleugnen nicht ihre ursprüngliche Existenzberechtigung oder verurteilen sie als „schlecht“ oder „böse“, aber wir geben uns auch nicht damit zufrieden, dass sie uns sabotiert. Wir kommunizieren ihr: Das hier ist mein Körper und mein neues Leben, und du bist in ihnen nicht mehr willkommen. Tu, was tu tun musst, tob dich aus, wenn du musst, aber dann verschwinde.
Halten Sie das Licht Ihres Bewusstseins auf Ihre Scham gerichtet, so werden Sie irgendwann ein Licht am Ende des Tunnels erblicken. Dieses Licht ist ein wenig wie eine Tür, die ein Stück offensteht, sodass Sie hindurchblicken können. Auf der anderen Seite werden Sie etwas sehen, dass Sie auf Ihrem weiteren Weg bestärkt: Sie werden erkennen, dass es möglich ist, ohne toxische Scham zu leben. Der Blick auf die andere Seite ermöglicht Ihnen, sich zumindest vorzustellen, dass ein solcher Zustand möglich ist. Dies ist bereits ein gewaltiger Fortschritt, verglichen mit Ihrer ursprünglichen Annahme, dass Scham Ihren gesamten inneren und äußeren Kosmos bestimmt.
Wenn Sie diesen Weg auf sich nehmen, werden Sie zwar immer noch Schmerz spüren, aber auch, wie stückchenweise neue Lebensenergie in Ihnen erwacht. Wie Sonnenstrahlen, die das Eis schmelzen lassen, werden Ihre Bemühungen Ihre starren Bewältigungsmechanismen auflösen und Ihr Wahres Selbst wird leuchtend hervortretend.
Zuerst ist die Erleichterung, die damit einhergeht, möglicherweise kaum spürbar. Irgendwann aber werden Sie bemerken, dass die Last, die Sie zuvor zu erdrücken schien, zwar noch da ist, aber sich „nur“ noch wie ein machbares Gewicht anfühlt, irgendwann vielleicht nur noch wie ein leichtes Ziehen.
Von da an werden Stück für Stück weitere Erkenntnisse zu Ihnen durchbrechen: Sie können Dinge an sich und in Ihrem Umfeld verändern. Sie können im Leben vorankommen, die Initiative ergreifen, aktiv werden und Dinge erreichen, die Ihnen zuvor unmöglich erschienen.
Sie werden lernen, mehr und mehr frei fließende Lebensenergie auszuhalten und sie zu nutzen. Statt einengender Strukturen werden Sie einen offenen Raum erleben, dessen Gestaltung Ihnen freisteht. Sobald Sie aus dem mentalen Gefängnis toxischer Scham ausgebrochen sind, trauen Sie sich endlich zu, Dinge selbst zu tun und zu entscheiden, und Sie freuen sich sogar darauf.
Stufe 2: Beharrlichkeit entwickeln
Wenn Sie sich vom Fluss der Lebensenergie in den Raum der Möglichkeiten tragen lassen, die das Leben Ihnen bietet, werden Sie bald feststellen, dass die Freiheit Sie nicht nur mit offenen Armen willkommen heißt. Das Leben ist bekanntermaßen kein Ponyhof, sondern geht mit allerlei Herausforderungen, Reibungen und Gegenkräften einher.
Um nicht den Mut zu verlieren, verbittert zu werden oder uns zurückzuziehen, wenn unsere neu gewonnene Energie auf Widerstände stößt, müssen wir lernen, Beharrlichkeit zu entwickeln. Dies bedeutet: Wir müssen akzeptieren, dass das Leben, insbesondere ein selbstbestimmtes Leben, Spannungszustände mit sich bringt. Wer etwas erreichen will, muss Hindernisse überwinden. Wer sich behaupten will, muss mit dem Widerstand derjenigen rechnen, die ihn lieber kleinlaut, passiv und „brav“ halten würden.
Dies erfordert, dass wir nicht verzweifeln, wenn der Fluss der Lebensenergie sich an Aufgaben, Menschen oder Umständen „staut“ und nicht so schnell oder nicht in die Richtung voranfließt, die wir uns wünschen. Wir müssen lernen, auch zu solchen Situationen Ja zu sagen, zu akzeptieren, dass sie Teil unseres Fortschritts sind und beharrlich weiter daran arbeiten, die Richtung unseres Lebens zu bestimmen.
Dies erfordert eine gewisse Balance. Wir sollten weder blind für die Wirklichkeit sein und aus Prinzip mit dem Kopf durch die Wand wollen. Noch sollten wir vorschnell annehmen, dass unsere gewählte Richtung „nicht funktioniert“ und wir die Dinge anders angehen sollten. Besonders sollten wir darauf achten, uns nicht vorschnell von den Sichtweisen anderer beeinflussen zu lassen Dies gilt natürlich insbesondere für die Sichtweisen von Narzissten.
Sobald Sie anfangen, Ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen und anderen gegenüber Grenzen zu ziehen, wir Ihnen von Narzissten harter Widerstand entgegenschlagen. Ein Narzisst kann sich kaum etwas Schlimmeres vorstellen, als wenn seine ehemalige Zielperson plötzlich anfängt, selbst zu denken, zu handeln und sich zu behaupten.
Sobald er Veränderungen an Ihnen bemerkt, wird er jede sich bietende Gelegenheit nutzen, um Ihre Beharrlichkeit zu testen und Sie wieder in ihre alte, unterwürfige Position zurückzudrängen. Um sich dem zu widersetzen, müssen Sie lernen, zuzulassen, dass es zu Konflikten kommt, statt ihnen auszuweichen.
Sie müssen beharrlich bleiben und auf Ihren persönlichen Grenzen bestehen, wenn der Narzisst Sie bedrängt. Nur so können Sie ihm zeigen, dass Sie es ernst meinen und nicht nur ein Machtspiel betreiben. In der Regel wird er seine Angriffe, Lockungen, Drohungen und sein Lächerlichmachen daraufhin verstärken. Wenn Sie jedoch beharrlich bleiben, wird er erkennen, dass ihm nur zwei Möglichkeiten bleiben: entweder, Sie aufzugeben und sich ein leichteres Opfer zu suchen, oder nach Ihren Regeln zu spielen.
Ein Anzeichen dafür, dass Sie die zweite Stufe Ihrer Heilung nach narzisstischem Missbrauch gemeistert haben, besteht darin, dass es Ihnen relativ leichtfällt, unbequeme Situationen auszuhalten und Ihre persönlichen Grenzen gegenüber anderen aufrecht zu erhalten.
Es gelingt Ihnen, den Blickkontant mit anderen aufrecht zu erhalten, nachdrücklich Nein zu sagen, wenn Sie etwas nicht wollen, und den emotionalen Stürmen standzuhalten, die entstehen, wenn der Narzisst versucht, Sie zu bedrängen.
Stufe 3: Emotionale Autonomie herstellen
Jeder von uns hatte in der einen oder anderen Weise schon einmal mit intensiven Emotionen zu kämpfen und weiß, wie leicht sie uns überwältigen können. Unser logisches Denken und unsere Glaubenssätze werden leicht ausgehebelt, wenn uns ein bestimmtes Gefühl ergreift. Bis zu einem gewissen Grad ist dies normal. Wenn wir jedoch ständig von unseren Emotionen überwältigt werden oder immer wieder in Handlungsmuster verfallen, die uns schaden, wird es Zeit, zu handeln.
Besonders Zielpersonen von Narzissmus sind anfällig dafür, von aufgestauten oder besonders aufgeladenen Emotionen mitgerissen zu werden. In einer Beziehung mit einem Narzissten sind wir nicht in der Lage, unserer Höheres Selbst zu kultivieren, welches uns erlaubt, auch in emotionalen Stürmen bewusst zu bleiben und auf rationale Weise zu entscheiden, wie wir reagieren.
Ohne die emotionale Autonomie, die uns unser Höheres Selbst ermöglicht, fühlen wir uns, wenn sich starke Gefühle in uns regen, gezwungen, gemäß unseren „Programmierungen“ zu reagieren, also nach den Mustern, die uns unsere bisherige Konditionierung eingeprägt hat. Selbst, wenn wir gelernt haben, uns von unserer toxischen Scham zu befreien und in einem gewissen Maß Grenzen zu ziehen, können wir unsere Standfestigkeit verlieren, wenn wir „zu viel“ fühlen.
Praktische Beispiele hierfür gibt es viele. Vielleicht macht uns jemand einen Vorwurf oder redet uns ein schlechtes Gewissen ein, sodass wir instinktiv versuchen, unser Verhalten „wieder gut zu machen“ und unseren Wert in den Augen des anderen wiederherzustellen. Während Umsicht und Vorsicht im Umgang mit anderen wichtige Eigenschaften sind, sollten wir jedoch nicht vorschnell in antrainierte Verhaltensweisen verfallen.
Stehen wir mit unserem Höheren Selbst in Kontakt, können wir auf den emotionalen Impuls, den uns die Kritik des anderen sendet, reagieren, indem wir erst einmal einen Schritt zurücktreten und uns fragen: Ist es wirklich angemessen, dass ich mich schuldig fühle? Habe ich wirklich etwas falsch gemacht, dass ich korrigieren sollte? Oder sehe ich die Angelegenheit anders und sollte den Vorwurf des anderen erst genauer prüfen?
Auch Manipulationen können wir leichter erkennen, wenn wir nicht komplett in unseren Gefühlen verstrickt sind, sondern uns die Fähigkeit erarbeiten, sie aus einer gewissen Distanz zu betrachten. Wenn jemand droht, uns zu verlassen oder nicht mehr mit uns redet, um uns zu bestrafen, verspüren wir möglicherweise den Impuls, uns ihm zu Füßen zu werfen und alles zu tun, damit er uns wieder besser behandelt.
Emotionale Autonomie ermöglicht uns, den Schmerz zu spüren, aber trotzdem in uns selbst zentriert zu bleiben und rational zu überlegen: Ist das, was der andere gerade mit uns macht, gerechtfertigt oder ein Anzeichen für Missbrauch und Unreife in Beziehungen? Unser Höheres Selbst erinnert uns daran, dass wir, ganz egal, was andere sagen oder wie wir uns fühlen, ein Mensch sind, der es verdient, zu existieren und respektiert zu werden.
Unsere Höheres Selbst hilft uns, nicht zu vergessen, dass unsere Emotionen eben nur das sind: Emotionen. Sie sind ein Teil von uns, aber sie sind nicht wir. Keine Angst, Scham oder Schuld kann unseren innersten Wert negieren. Wenn wir diesen Umstand selbst begriffen haben und ihn in unser Handeln einfließen lassen, werden auch andere die Veränderung in uns spüren.
Sobald wir nicht mehr für den Kern unserer Existenz auf andere angewiesen sind, weil wir emotionale Autonomie entwickelt haben, sind wir bereit, endgültig aus dem Schatten des Narzissmus zu treten.
Stufe 4: Den Verehrungskomplex überwinden
Die Verehrung anderer ist ein zentraler Bestandteil unserer Konditionierung. Als Kinder verehren wir unsere Eltern, als wären sie Götter. Als Zielpersonen von Narzissmus gaukelt uns der Narzisst vor, „perfekt“ und verehrungswürdig zu sein. Viele Menschen verehren bis ins Erwachsenenalter Sportler, Popstars, Politiker oder Influencer.
Was all diese Muster gemeinsam haben, ist die Überhöhung und Verehrung eines anderen, dem wir uns unterordnen und den wir als „Leitstern“ oder Quelle unserer Identität behandeln. Die Reise zur Befreiung vom Narzissmus ermöglicht uns, diese Fehlausrichtung unserer Kräfte zu korrigieren.
Unser Aufstieg über die verschiedenen Stufen der Befreiung vom Narzissmus geht mit gewissen Erkenntnissen und „Erleuchtungen“ einher. Wir gewinnen unser Selbstbewusstsein zurück und erleben, dass wir mehr sind und können, als wir dachten. Wir betrachten uns selbst und die Welt aus einem erhöhten Zustand von Geist, Körper und Seele heraus. Wir beginnen, das verborgene Potenzial in uns zu spüren und sind neugierig darauf, es zu verwirklichen.
Je mehr wir das Wunder unseres eigenen Selbst entdecken, desto mehr werden wir uns bezüglich der Menschen, die wir in der Vergangenheit verehrt haben, fragen:
Warum nicht ich?
Nun, da wir erkannt haben, welche Möglichkeiten in uns schlummern, kommt uns fast schon zwingend der Gedanke: Warum sollte ich andere Menschen verehren? Sicher, wir können andere respektieren oder für das wertschätzen, was sie leisten, aber verehren? Könnte es sein, dass wir Größe nur deshalb in anderen gesucht haben, weil wir sie uns selbst nicht zutrauen? Dass wir Glück, Erfüllung und Freiheit in anderen feiern, weil wir glauben, diese Gefühle nur auf diese Weise, aber nicht am eigenen Leib, erfahren zu können?
Viele Menschen leben mit dem, was der Psychiater Carl Jung einen „Elternkomplex“ nannte. Sie glauben selbst als Erwachsene noch, dass die Lösung für ihre Probleme in jemand anderen zu finden ist – dass jemand, der „größer“ oder „klüger“ ist, die Antworten für ihr Leben kennt oder über die Macht verfügt, ihnen zu geben, was sie brauchen.
Ein Mensch, der seinen Elternkomplex nicht überwunden hat, realisiert nicht, dass nur er selbst dafür verantwortlich und dazu in der Lage ist, seine innersten Bedürfnisse zu erfüllen. Dies geschieht selbstverständlich nicht in einem Vakuum – wir alle brauchen die Unterstützung anderer. Wir sind nicht dazu gemacht, dieses Leben ganz allein zu meistern. Trotzdem sind nur wir dafür verantwortlich, in welche Richtung wir unser Leben steuern, was wir zulassen und welchen Überzeugungen wir folgen.
Dazu gehört die Bereitschaft, ins Ungewisse zu treten und auf die Weisheit unseres Körpers zu vertrauen, anstatt einen anderen Menschen zu einer „höheren Macht“ zu erheben, in der wir all die Fähigkeiten suchen, die wir eigentlich in uns selbst verwirklichen sollten.
Nicht zufällig ist die Überwindung unseres Verehrungskomplexes eine späte Stufe in unserer Befreiung vom Narzissmus. Es erfordert einigen Mut und das Erleben erster positiver Erfahrungen, die uns in unserer Eigenständigkeit bestärken, bevor wir anerkennen können, dass wir für alles in unserem Leben selbst und ganz allein verantwortlich sind.
Verantwortung bedeutet dabei etwas anderes als Schuld: Viele von uns sind nicht schuld daran, dass wir sind, wo wir sind – dass wir die Eltern, Partner, Freunde, Kollegen oder Chefs hatten, die uns an den Punkt gebracht haben, an dem wir uns heute befinden. Aber wir tragen die Verantwortung dafür, uns von nun an in die Richtung zu bewegen, für die wir uns entscheiden.
Bildlich gesprochen, ist es beängstigend, ganz allein an den Rand des Abgrunds zu treten und in ihn hinein zu starren, ohne jemanden, der uns sagt, was wir tun sollen oder wie wir es tun sollen. Letztendlich ist es jedoch genau dieser selbstbestimmte Schritt ins Unbekannte, um den es im Leben geht.
Wir wissen nicht, was die Zukunft bringt, aber das weiß auch niemand anders. Wir alle tun nur unser Bestes angesichts der ständigen Herausforderungen, die das Leben mit sich bringt, und das ist okay – es ist, wenn wir genauer darüber nachdenken, sogar alles, was wir tun können. Was uns dabei trägt, ist der Glaube an unsere innere Weisheit und Stärke, die es uns erlauben werden, auch die nächste Prüfung zu bestehen, die jeder neue Tag mit sich bringt.
Wenn Sie die oben genannten vier Stufen der Heilung nach narzisstischem Missbrauch überwunden haben, sind Sie ein entscheidendes Stück weitergekommen, um sich Ihr eigenes Leben aufzubauen. Sie können sich für einen Augenblick ausruhen, sich für Ihre harte Arbeit auf die Schulter klopfen, und sich freuen, dass Vieles von hier an leichter wird.
Dann, sobald Sie dazu bereit sind, können Sie die Ärmel hochkrempeln und sich an die Arbeit machen, um das Leben zu gestalten, das Sie sich immer gewünscht haben – ein Leben voller Sinn und Zweck.
Mehr Informationen für Ihre Heilung nach einer narzisstischen Beziehung finden Sie in meinen Ratgebern „Sieg über Narzissmus“ und „Neuanfang nach Narzissmus“.