Einzigartigkeit, Spontaneität und Eigeninitiative haben in einer narzisstischen Familie keinen Wert. Stattdessen wird jeder auf eine Rolle reduziert, die dem grandiosen falschen Selbst des narzisstischen Elternteils dient.
Der Partner ist eine wichtige Stütze, um die Grandiosität des Narzissten zu bestätigen. Er ist auch ein emotionaler Puffer, der den Narzissten davor schützt, sich vor den Kindern verletzlich zu zeigen. Der Partner löscht meistens Brände und ist der Friedensstifter zu Hause.
Das Goldkind wird zum Ausdruck der ‚hellen‘ Seite der Grandiosität des Narzissten. Es ist der Schützling des Narzissten, auf den er all seine Hoffnungen und Träume setzt.
Was die „dunkle“ Seite der Grandiosität des Narzissten betrifft, müssen Frustration und negative Emotionen abgeleitet werden, um die Integrität des falschen Selbst aufrechtzuerhalten. Schließlich darf eine „überlegene“ und ‚besondere‘ Person keine Fehler haben. Dafür dient der Sündenbock der Familie als Ventil. Der Narzisst beschämt den Sündenbock, demütigt ihn, schimpft ihn aus und gibt ihm die Schuld für alles, was schief läuft. Während das Goldkind nichts falsch machen kann, kann der Sündenbock nichts richtig machen.
Schließlich ist das göttliche Kind das Maskottchen des Narzissten und spielt eine zeremonielle Rolle, um der Familie in der Öffentlichkeit ein positives Image zu verleihen.
Die einzige Person, die keine definierte Rolle hat, ist das verlorene Kind. Seine einzige Aufgabe ist es, still zu sein und niemals für Unruhe zu sorgen.
Zugang verweigert
Das verlorene Kind ist in der Regel ein mittleres Geschwisterkind, in manchen Fällen kann es auch das jüngste sein. Sobald der Narzisst zwei der Kinder in „perfekt“ und „widerlich“, also in ‚gut‘ und „böse“, unterteilt hat, kümmert er sich nicht mehr um den Rest.
Das ist die einfachste Sichtweise. Natürlich gibt es Ausnahmen.
In manchen Familien haben beide Elternteile narzisstische Züge, und die Kinder können je nach Geburtsrang und Geschlecht in zwei Lager gespalten werden. Auch das göttliche Kind kann eine Ausnahme sein. Ähnlich wie das Goldkind kann das göttliche Kind nichts falsch machen. Der Unterschied besteht jedoch darin, dass vom göttlichen Kind nichts erwartet wird, im Gegensatz zum Goldkind. Das Goldkind soll die Erwartungen der narzisstischen Eltern erfüllen – kompetent, besonders und mächtig werden, ganz nach der Vorstellung der Eltern. Das göttliche Kind hingegen ist „das Baby“ und wird einfach dafür verehrt, dass es das Baby ist. Man kann sich das Goldkind als die ideale Version des Narzissten selbst vorstellen und das göttliche Kind als das Kind, das der Elternteil idealerweise hätte sein können, bevor seine narzisstische Verletzung zum Vorschein kam. Beide sind Projektionen.
In manchen narzisstischen Familien wird ein Kind zum Ersatzelternteil ernannt und muss sich um seine jüngeren Geschwister kümmern. In diesem Fall bekommt der Ersatzelternteil eine wichtige Position, die nichts mit der Grandiosität des Narzissten zu tun hat. Er übernimmt einfach eine funktionale Rolle, die den Narzissten von den Zwängen seiner Elternrolle befreit.
Jedes Kind, das sich im „Gerangel“ um die Rollen keine Position sichern kann, wird zurückgelassen. Es wird zwar wahrscheinlich nicht auf die Straße geworfen, aber es versteht unterschwellig, dass es in seiner Familie einen VIP-Bereich gibt und es nicht dazu gehört.
Der narzisstische Elternteil kümmert sich dann darum, sein „Reich“ der Grandiosität aufrechtzuerhalten, indem er die Kinder im „Club“ mit seiner Aufmerksamkeit (und seiner Dunkelheit) überstrahlt. In der Zwischenzeit fühlt sich das verlorene Kind allmählich unsichtbar. Es kämpft vielleicht eine Zeit lang gegen diese Realität an und versucht mit Aggression, etwas Aufmerksamkeit zu erlangen, aber der narzisstische Elternteil weist es schnell wieder in seine Schranken. Mit der Zeit legt sich ein dichter, schwerer, zersetzender Nebel der Scham über das verlorene Kind, das immer tiefer in eine Wolke der Unbedeutendheit versinkt.
Der Schwindel der Identitätslosigkeit
Zu Hause fragt niemand, wie sich das verlorene Kind fühlt. Niemand stellt ihm Fragen oder hält inne, um einen echten Moment mit ihm zu teilen. Bei Familiengesprächen sitzt das verlorene Kind stumm da. Wenn es sich doch mal zu Wort meldet, wird es vielleicht nur angestarrt, bevor das Gespräch ohne es weitergeht oder jemand es unterbricht. Nichts, was das verlorene Kind sagt, wird ernst genommen. Wenn es deprimiert oder traurig ist oder mit etwas zu kämpfen hat, bemerkt oder interessiert das niemanden.
In der Zwischenzeit lebt das verlorene Kind mit einem brennenden Gefühl der Wertlosigkeit. Es fühlt sich, als würde es niemand sehen, hören oder sich um es kümmern. Ohne einen Spiegel, der ihm Feedback, Anerkennung, Zustimmung oder Anleitung gibt, verliert das verlorene Kind das Gefühl dafür, wer es ist. Sein einziger Begleiter in seiner einsamen Welt ist die Scham, dieses brennende Gefühl der Minderwertigkeit und Wertlosigkeit. Eine dunkle Schwere erfasst es, während es sich immer tiefer in einen inneren Abgrund gesogen fühlt, als würde es im unendlichen Raum schweben.
Das verlorene Kind entwickelt schließlich eine „schizoide“ Persönlichkeit und löst sich von der Welt, die es durch eine psychologische Glasscheibe erlebt. In diesem Zustand fühlt sich nichts real an, nicht einmal das verlorene Kind selbst.
Von Verzweiflung geplagt und von dem Schmerz, nicht dazuzugehören oder gar nicht zu existieren, treibt das verlorene Kind weiter durch den dunklen Abgrund, bevor es in der Ferne ein Licht wahrnimmt. Dort erwartet es die Utopie.
Eine neue Welt voller Möglichkeiten
Die Entfremdung des verlorenen Kindes von seiner Familie überträgt sich oft auf die reale Welt. Da ihm grundlegende zwischenmenschliche Fähigkeiten fehlen, hat es Schwierigkeiten, in der Schule und in der Gemeinschaft einen Platz zu finden. Es verbringt die meiste Zeit allein und fühlt sich selbst inmitten von Menschen einsam. Es kann eine besondere Beziehung zu anderen verlorenen Kindern aufbauen, aus der sich schließlich eine Freundesgruppe von „Ausgestoßenen“ entwickeln kann. Doch der innere Zustand des verlorenen Kindes bleibt unverändert: Es fühlt sich wie ein Außerirdischer im Weltraum.
Ohne eine Welt, mit der es sich verbinden kann, und mit einer wachsenden Scham in seinem Inneren, zieht sich das verlorene Kind aus seinem Schmerz zurück und flüchtet sich in seine Gedanken. Es entwickelt in der Regel eine reiche Fantasie und ersinnt unzählige Szenarien, in denen es von anderen geliebt wird oder selbst der Held ist. Dies hilft ihm, sein Gefühl der Unliebbarkeit und Ohnmacht in der realen Welt zu lindern.
Das verlorene Kind entwickelt auch eine lange Reihe von Schwärmereien und sucht sich besondere Liebesobjekte aus, die es „auswählen“ und aus der Unbekanntheit herausholen könnten. Diese Schwärmereien bleiben jedoch meist in der Fantasie des verlorenen Kindes, das aus der Ferne starrt und sehnt.
In ihrer Freizeit verbringen verlorene Kinder möglicherweise unzählige Stunden mit Lesen, Serien schauen oder Videospielen. Dieser dissoziierte Zustand betäubt den Schmerz des verlorenen Kindes und gibt ihm gleichzeitig ein Gefühl von Frieden und Kontrolle.
Verlorene Kinder versuchen sich oft in kreativen Tätigkeiten. Sie tun dies intuitiv, um der unaussprechlichen Realität ihres Lebens eine Form zu geben. Denn wie kann man etwas ausdrücken, das nicht existiert?
Da es die meiste Zeit seines Lebens ein Außenseiter ist, bekommt das verlorene Kind einen einzigartigen Blick auf die Welt. Während andere sich mit den Kleinigkeiten und Belanglosigkeiten des Alltags beschäftigen, sieht das verlorene Kind nur das große Ganze. Unbeeindruckt von Aufregung und Drama und unbeeinträchtigt von sozialen Zwängen haben verlorene Kinder nichts als Zeit und Raum. Sie verbringen diese Zeit damit, die Welt zu beobachten, Muster und Erkenntnisse in ihrer reichen Vorstellungskraft zu sammeln und Verbindungen herzustellen, die niemand sonst sieht.
Eine unverzichtbare Perspektive
Die Welt ist ein chaotischer und verwirrender Ort. Unaufhörliche Ereignisse in unserem Leben und in der Gesellschaft insgesamt lösen Wellen von überwältigenden Emotionen und Problemen aus. Jemand im Haus lässt jeden verdammten Tag seine Zahnseide auf dem Waschbecken liegen, und du bist kurz vor der Explosion. Zwei deiner engen Freunde reden nicht mehr miteinander, und du spielst den Diplomaten, während du wegen des Dramas schlaflose Nächte hast. Dein Partner verhält sich in letzter Zeit seltsam und distanziert. Lange Arbeitszeiten machen es dir schwer, deine Verpflichtungen gegenüber deinen Basketball-Teamkollegen einzuhalten. Das sind die Anforderungen des Lebens in einer vernetzten Welt. Du hast keine Zeit, dein Leben zu verarbeiten, geschweige denn einen Sinn darin zu finden.
Dann taucht das verlorene Kind auf.
Das verlorene Kind bemerkt das Chaos auf dem Waschbecken kaum, zu sehr ist es in seine Fantasiewelt versunken. Es beobachtet gelassen das Drama in der Schule oder bei der Arbeit von seinem einsamen Platz aus und fragt sich, ob es dem Psychologiebuch entspricht, das es das ganze Wochenende über gelesen hat. Ein Bekannter, der total gestresst ist, bemerkt das verlorene Kind, das nichts tut, und vertraut ihm seine Beziehungsprobleme an. Das verlorene Kind greift auf seine reiche Fantasie und sein tiefes Wissen zurück und schlägt etwas vor, woran der Bekannte noch nie gedacht hat. Halb beeindruckt, halb skeptisch bedankt sich der Bekannte beim verlorenen Kind und geht seiner Wege, während er sich fragt, wie er diesen aufschlussreichen Ratschlag umsetzen soll.
Hierin liegt das Paradox des verlorenen Kindes. Aus seiner entbehrlichen und austauschbaren Position wird es einzigartig unverzichtbar. Mit seiner kreativen Denkweise, seinem enzyklopädischen Wissen und seinem Blick aus der Vogelperspektive kann das verlorene Kind einen immensen Wert bieten. In vielen Fällen wird dieser Wert verschwendet, da das verlorene Kind, geplagt von geringem Selbstwertgefühl und mangelnder Handlungsfähigkeit, in seiner unbedeutenden Position verbleibt.
Für das glückliche verlorene Kind ruft die Welt. In einem solchen Fall bemerkt jemand den außergewöhnlichen Wert des verlorenen Kindes und ermutigt es, diesen zu teilen. Verlorene Kinder sind oft berühmte Maler, produktive Schriftsteller und brillante Philosophen. Sie werden aus der Welt verstoßen und überwinden sie schließlich, während sie die Gesellschaft auf unergründliche und unvorstellbare Weise verändern.
Wenn du zufällig ein verlorenes Kind bist, dann sei dir dessen bewusst: Du bist wertvoll. Aber nur, wenn du lernst, dich selbst zu sehen. Erhebe dich zu deiner höheren Ebene und leite dein verlorenes inneres Kind an, deinem Licht zurück in die Welt zu folgen.
Gott weiß, dass es dich braucht.